Darüber hinaus wird der klassische Konflikt „Ich und die Anderen“ im vermehrt in größere, aktuelle Kontexte eingebunden: Sowohl Kinder- als auch Jugendbücher reflektieren gesellschaftliche Herausforderungen. Autorinnen und Autoren wie Ingrid Ovedie Volden, Arne Svingen oder Marianne Kaurin verhandeln Ökologie, Flucht, Migration, Kriminalität und Armut. Der moralische Zeigefinger bleibt unten, dennoch wird das Bewusstsein für die Brüche in der norwegischen Gleichheitsgesellschaft geschärft und der Blick auf jene gelenkt, die an den Rand gedrängt sind.
In den letzten Jahren haben sich zudem vermehrt Autorinnen und Autoren zu Wort gemeldet, denen man bislang kaum Raum zugestanden hat – Einwanderinnen und Einwanderer der zweiten Generation, die vom Hin- und Hergerissensein zwischen den Ansprüchen ihrer Familien, denen der norwegischen Mehrheitsgesellschaft und gegenseitigen Vorurteilen erzählen. Die jungen Musliminnen Amina Bile, Nancy Herz und Sofia Nesrine Srour zeigen in ihrem Buch „Skamløs“ (dt. Ausgabe: Schamlos), wie Konzepte von „Ehre“ und „Scham“ dazu missbraucht werden, Mädchen und Frauen zu bevormunden, zu gängeln und in ihrer Entfaltungsfreiheit einzuschränken.
Auch wenn Amina Bile, Nancy Herz und Sofia Nesrine Srour zu Recht eine aufklärerische Absicht verfolgen, ist die norwegische Kinder- und Jugendliteratur im Allgemeinen nicht so sehr davon geprägt, etwas zu „sollen“. Didaktische Intentionen und kommerzielle Interessen treten weniger prominent hervor – auch dies ein Verdienst der norwegischen Literaturpolitik, von der Künstlerinnen und Künstler, Verlage, Bibliotheken und Leserinnern und Leser gleichermaßen profitieren: Bereits in den 1960er Jahren wurde die sogenannte „innkjøpsordning“ (dt. Beschaffungsordnung) initiiert. Auf ihrer Grundlage kauft der Norwegische Kulturrat jedes Jahr ausgewählte aktuelle, originär norwegische Titel und verteilt sie an alle Bibliotheken, sodass sie für jede und jeden zugänglich sind. Verlage macht die „innkjøpsordning“ unabhängiger von marktökonomischen Zwängen, was wiederum die Offenheit gegenüber ästhetischen Experimenten und unkonventionellen Titeln steigert.
Auch außerhalb der Landesgrenzen ist norwegische Literatur erfolgreich – aufgrund ihrer Qualität und Innovationskraft, dank des Einsatzes professioneller Vermittler und nicht zuletzt dank einer finanziell komfortabel ausgestatteten Übersetzungsförderung. Für Norwegen ist Deutschland Exportnation Nummer 1 – und mit Blick auf die Kinder- und Jugendliteratur zeigt sich die Vielfalt der norwegischen Produktion auch auf dem deutschen Buchmarkt. Mag es auch Gattungen – wie die Lyrik – und Künstlerinnen und Künstler geben, die (bislang) nicht in Deutschland präsent sind, so schlagen die derzeit aus dem Norwegischen übersetzten Bilder-, Kinder- und Jugendbücher thematisch und stilistisch den Bogen von A bis Å und verweisen auf den Reichtum der norwegischen Kinder- und Jugendliteratur.
Dr. Ines Galling, Lektorin für deutschsprachige und skandinavische Kinder- und Jugendliteratur in der Internationalen Jugendbibliothek München