Magie und Humor – Kinder- und Jugendliteratur aus Großbritannien

Kinderliteratur aus Großbritannien ist deutschen Leser:innen seit langer Zeit vertraut. Von Klassikern wie Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ (dt. 1869; engl. „Alice’s Adventures in Wonderland, 1865) bis zur fantastischen Erfolgsreihe „Harry Potter“ (dt. 1998-2007), von Beatrix Potters Tiergeschichten um „Peter Rabbit“ & Co (1900 ff.) bis zu Julia Donaldson und Axel Schefflers furchterregendem „Grüffelo“ (1999; engl. „The Gruffalo“), sind zahlreiche Werke der britischen Literatur für Kinder und Jugendliche ins Deutsche übersetzt.

Die beiden Begriffe, die viele Leser:innen häufig spontan mit „typisch britischer“ Kinderliteratur verbinden, sind Magie und Humor; und tatsächlich sind beide Aspekte auch in der modernen britischen Literaturlandschaft sehr prominent.

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Fantastische Abenteuer

Drehen sich fantastische Romane für Jugendliche, wie etwa Philip Pullmans „His Dark Materials“-Trilogie (1995-2000), meist um die bei „High Fantasy“ typischen „quests“ und den Kampf zwischen guten und bösen Mächten, so fallen vor allem bei magischen Abenteuern für Kinder viele witzige und absurde Elemente auf. In Cressida Cowells „Wilderwald“ Reihe (2019-2022; engl: „The Wizards of Once“, 2017-2020) gibt es beispielsweise recht untypische Held:innen-Figuren, die für Erheiterung sorgen, wie den leicht größenwahnsinningen Zaubererjungen Xar, die etwas mickrig geratene, ziemlich un-kriegerische Kriegerin Willa und ihren Hilfsleibwächter Griffel, der leider immer in den gefährlichsten Momenten durch eine Schlafkrankheit außer Gefecht gesetzt wird. Die Kinderbücher der Comedy-Expertin Lissa Evans – vor allem das 2023 erschienene „Zehn Wünsche, sieben Abenteuer und eine sprechende Katze“ (engl. „Wished“, 2022) – vermischen realen Kinderalltag mit magischen Überraschungen, die allerdings nicht ganz so „funktionieren“, wie sich die kindlichen Protagonist:innen das erträumt hatten. Lissa Evans steht damit in der Tradition der „Light Fantasies“, wie den amüsanten Klassikern von Edith Nesbit und P.L. Travers.

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Britischer Humor

Humor und Nonsense spielen auch in nicht-magischen Werken eine wichtige Rolle. Für witzige Bilderbücher mit oft cartoonhaften Illustrationen sind viele britische Künstler:innen bekannt, u. a. Ross Collins, Sarah McIntyre, Tor Freeman und Tony Ross. Einige Illustrator:innen haben sowohl humorvolle Bilderbücher, als auch lustige Kinderbücher geschaffen, wie Chris Riddell mit seinen Bänden über die Halbwaise Ada von Goth (2015-2017; engl. „Goth Girl“, 2013-2017), die von Sprachwitz und Anspielungen wimmeln, oder Nadia Shireen, die in ihrer neuen „Grimmwald“-Reihe (2022ff.; engl. „Grimmwood“, 2021 ff.), das Fuchs-Geschwisterpaar Nancy und Ted in einen Wald schickt, der mit äußerst seltsamen Geschöpfen bevölkert ist.
Neben dem erfolgreichen Schauspieler, Comedian und Kinderbuchautor David Walliams, dessen Kinderbücher wie „Gangsta-Oma“ (2016; engl. „Gangsta-Granny“, 2011) oder „Das Eismonster“ (2020; engl. „The Ice Monster“, 2018) skurrile Charaktere und aberwitzige Abenteuer vereinen, setzt auch die beliebte Autorin und Illustratorin Lauren Child auf Komik. Mit kreativen Sprachneuschöpfungen, typisch kinderlicher (Un-)Logik und Übertreibungen, erschafft sie amüsante und absurde Geschichten, z. B. in ihren Bilderbüchern um die Geschwister Charlie und Lola, sowie in der „Clarice Bean“-Kinderbuchreihe, die sie mit ihrem typisch kritzeligen und kantigen Stil illustriert. Die Werke von Beiden erinnern an die Klassiker von Roald Dahl, die von Quentin Blake kongenial mit energiegeladenen Bildern interpretiert wurden.

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Junge Detektiv:innen

Bei erwachsenen ebenso wie jungen Leser:innen sehr beliebt sind auch Kriminalromane, vor allem in der Tradition von Detektivgeschichten à la Agatha Christie oder der Geheimnis-Reihe von Enid Blyton. So ermitteln sowohl in Robin Stevens‘ „Ein Fall für Wells und Wong“-Reihe (engl. „A Murder Most Unladylike“, 2014-2021) als auch in Katherine Woodfines Krimigeschichten der Serie “Kaufhaus der Träume“ (engl. „Sinclair‘s Mysteries“, 2015-2017) – die beide zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielen – clevere Detektiv:innen-Gespanne. Sie klären Diebstähle, Betrug, und Mordfälle auf, an denen sich die Polizei die Zähne ausbeißt. Auch Sharna Jacksons „High-Rise Mystery“ (2020) und Andrew Lanes „Young Sherlock Holmes“ Serie (2012-2017; engl. 2010-2015) spinnen die jugendliche Detektiv-Tradition weiter, während Lauren Childs junge Superheldin Ruby Redfort (2011-2016) in James-Bond-Manier gar von der Geheimdienst-ähnlichen „Spectrum Agency“ um Mithilfe gebeten wird.

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Gedichte und Versromane

Kinderlyrik hatte in England schon immer eine besondere Stellung. Klassiker wie Edward Lears Nonsense Limericks werden mit neuen Illustrationen ebenso verlegt wie moderne Gedichtanthologien von erfolgreichen Lyrikern wie Michael Rosen und dem aktuellen Children’s Laureate Joseph Coelho, die darüber hinaus auch Performance Poetry Workshops anbieten, um für Lyrik zu begeistern. Ein Genre, das in englischsprachigen Ländern seit Jahren sehr populär ist, ist die „Verse Novel“. Durch ihre dichte, rhythmische Sprache, ziehen diese in (meist freier) Versform verfassten Romane die Leser:innen besonders in den Bann, z. B. Sarah Crossans Buch „Eins“ (2016; engl. „One“, 2015) über die 16-jährigen siamesischen Zwillinge Tippi und Grace. Einerseits lassen sich Versromane aufgrund der geringen Textmenge schneller lesen als konventionelle Romane – was nicht nur für „Lesemuffel“ attraktiv ist – andererseits bieten sie dem Publikum durch kurze Sätze und häufige Pausen auch viel Freiraum für eigenes Reflektieren. In zahlreichen Versromanen wird die Geschichte aus der Sicht mehrerer Protagonist:innen erzählt, etwa in Manjeet Manns „The Crossing“ (2021), das in abwechselnden Kapiteln von zwei Jugendlichen geschrieben ist, deren Lebenswege sich für einen Moment kreuzen: Natalie in Dover und Samuel aus Eritrea.

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Kulturelle Diversität

Anders als in Deutschland, wo mehr als 20% der veröffentlichten Kinderbücher Übersetzungen aus anderen Sprachen sind, ist der Anteil der übersetzten Kinder- und Jugend-Literatur in England (ebenso sowie in englischsprachigen Ländern generell) ziemlich gering. Auch in Bezug auf kulturelle Vielfalt ist die KJL-Szene in Großbritannien nach wie vor stark von weißen Autor:innen und Illustrator.innen geprägt. Es gibt jedoch in den letzten zehn Jahren positive Entwicklungen zu mehr kultureller Diversität. So haben sich nicht nur eine Reihe kleiner, unabhängiger Verlage etabliert, die sich auf Geschichten von Schöpfer:innen unterschiedlicher Ethnien spezialisieren, wie Lantana Books, Tiny Owl oder Knights Of. Es gibt auch einige Förderprogramme, z.B. der Leseförderungs-Organisation BookTrust, die Künstler:innen gezielt unterstützen. Auch wenn es sicher noch längere Zeit dauern wird, bis die Repräsentation ethnischer Minoritäten in britischer KJL der Lebenswirklichkeit mehr entspricht, tragen diese Bestrebungen entscheidend dazu bei, die Sichtbarkeit von BAME (= Black, Asian and Ethnic Minority) Autor:innen und Illustrator:innen zu erhöhen. So sind Künstler:innen wie Jasbinder Bilan, Atinuke, Patrice Lawrence, Onjali Raúf, oder Dapo Adeola in Großbritannien erfolgreich, auch wenn viele dieser Autor:innen bisher nicht ins Deutsche übersetzt sind. Thematisch beschäftigen sich Künstler:innen of Colour häufig mit Rassismuserfahrung und Benachteiligung und zwar in unterschiedlichsten Genres. So gibt es neben realistischen Romanen, wie Alex Wheatles Crongton Trilogie (2017-2021; engl. 2015-2019), angesiedelt in einem fiktiven Londoner Brennpunktviertel, beispielsweise auch Eliteschule-Thriller, wie Faridah Àbíké-Íyímídés „Pik Ass“ (2022; engl. „Ace of Spades“, 2021), oder Zeitreise-Fantasy wie Femi Fadugbas „The Upper World“ (2021), etc.  

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LGBTQ+

Bücher mit LGBTQ-Protagonist:innen sind im englischsprachigen Jugendbuch schon lange kein Tabu mehr. So drehen sich zahlreiche Jugendromane, um Beziehungen, die Suche nach der sexuellen Identität und das Coming-Out homosexueller (teils auch transsexueller) Protagonist:innen, wie Dean Attas Versroman „Der schwarze Flamingo“ (2023; engl. „The Black Flamingo“, 2020) oder die sehr witzigen, romantischen Geschichten von Simon James Green. Die auch als Netflix-Serie verfilmte Graphic-Novel-Reihe „Heartstopper“ (2022ff, engl. 2019ff.) von Alice Oseman, ebenso wie ihre Romane, z. B. „Loveless“ (2022, engl. 2020), bieten romantischen und zum Nachdenken anregenden Lesestoff mit Protagonist:innen, die ein erfreulich breites Spektrum an Gender- und sexuellen Identitäten abdecken. Im Bilderbuch und Kinderbuchbereich, sind LGBTQ-Erzählungen noch weniger verbreitet, aber auch hier werden mit Büchern wie Harry Woodgates „Grandad’s Camper“ (2021) verstärkt Werke veröffentlicht, die diverse Familienkonstellationen zeigen.

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Kinder, Natur und Tiere

Familienbeziehungen, Freundschaften und Alltag nehmen in vielen Büchern für junge Leser:innen einen zentralen Platz ein. So bemüht sich etwa die zehnjährige Protagonistin in Jenny Valentines „Joy Applebloom“-Trilogie darum, die Probleme von Großvater, Schwester, und bestem Freund zu lösen und dabei ihren Optimismus zu bewahren. Eine ebenso wichtige Rolle spielen jedoch die Beziehung zwischen kindlichen Protagonist:innen und Tieren oder die heilende Kraft der Natur für die menschliche Gesellschaft, wie etwa in Nicola Davies‘ von Laura Carlin illustriertem Bilderbuch „Ein Baum ist ein Anfang“ (2022; engl. „The Promise“, 2014). Umwelt- und Tierschutz wird in realistischen Tiergeschichten, ebenso wie in Romanen mit magischen oder fantastischen Elementen aufgegriffen, in denen Kinder meist viel sensibler und aktiver auf Umweltprobleme reagieren als Erwachsene, von Piers Tordays „Die letzte Wildnis“ Trilogie (engl. „The Last Wild“, 2013-2015), bis zu dem in der Arktis spielenden „Der letzte Bär“ (2022; engl. „The Last Bear“, 2021) von Hannah Gold.

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Ob magische Abenteuer, realistische Alltagsgeschichten, spannender Krimi oder witziger Klamauk, gemeinsam sind vielen britischen Kinder- und Jugendbüchern starke, engagierte und kreative Protagonist:innen, die schwierige Situationen meistern – oft mit einer guten Prise Humor und Ironie. Ob das „typisch Britisch“ ist? Who knows!

Claudia Söffner, Lektorin für Englischsprachige Literatur in der Internationalen Jugendbibliothek, München.