Fantastik, Lyrik, Komik – dänische Kinder- und Jugendliteratur

Ines Galling

Die kleine Meerjungfrau und die Hotdogs mit den knallroten Würstchen – typisch dänisch. Außerdem denkt man an stylisches Design wie Arne Jacobsens Egg-Chair, an atemberaubende Architektur, Lego, Dogma-Filme und ambitionierte Fernsehserien, an eine kunstsinnige Königin, natürlich auch an Christiana sowie an ganz viel hygge – die berühmte dänische Gemütlichkeit.
Deutschlands nördlicher Nachbar verfügt über eine reiche Kultur- und Kunstlandschaft, wozu auch eine prosperierende Bilder-, Kinder- und Jugendbuchszene gehört. Über Dänemarks Grenzen hinaus bekannt sind sicherlich die Kunstmärchen Hans Christian Andersens – mit der grausamen Schneekönigin, dem armen Mädchen mit den Schwefelhölzchen oder eben der kleinen Meerjungfrau. Doch daneben gibt es noch viele andere Texte und Figuren, die die dänische Kinder- und Jugendliteratur maßgeblich geprägt haben: Nennen kann man den Affen Oswald ebenso wie das Kätzchen Mis, das Nashorn Otto, Gummi-Tarzan, die kleine Cirkeline oder den kecken Vitello. Gemeinsam mit vielen anderen bilden sie den Reigen populärer dänischer Bilder- und Kinderbuchhelden, außerhalb Dänemarks sind sie hingegen nicht mehr oder noch nicht bekannt. Doch was nicht ist, kann ja wieder werden – lohnenswert wäre es allemal! Denn die dänische Kinder- und Jugendliteratur ist äußert facettenreich. Oft sehr humorvoll mit sichtbarer Lust am Erzählen kann sie auch ernst, mutig und nicht selten provokant sein, was ein Text wie Janne Tellers „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ (dän. „Intet“) deutlich gezeigt hat: Die radikale Parabel verhandelt vielschichtige ethische und philosophische Fragen über den (Un)Sinn des Lebens – und das wurde sowohl in Dänemark als auch in Deutschland in einem großen und durchaus widersprüchlichen Presseecho bedacht.

Kontrovers diskutieren lassen sich auch die Bilderbücher von Dorte Karrebæk, Lillian Brøgger oder Rasmus Bregnhøi. Sie sind im besten Sinne oft herausfordernd und grenzüberschreitend. Themen wie Tod, Suizid, Krankheit und Sexualität werden in häufig sehr expressiver Form dargestellt. Die Illustrationen tendieren oft in Richtung Karikatur und Groteske, was nicht-dänische Augen jedoch selten als ästhetische Verfremdungsform wahr- und annehmen. Die vielfach als drastisch empfundene Bildsprache schreckt ab – und das kann ein Grund dafür sein, dass kaum dänische Bilderbücher ins Deutsche übersetzt werden.

Doch Ausnahmen bestätigen die Regel: 2013 und 2014 erschienen „Herr Rumpelpumpel fliegt weg“ (dän. „Da lille Madsens hus blæste væk“) und „Die unglaubliche Geschichte von der Riesenbirne“ (dän. „Den utrolige historie om den kjempestore pære”) von Jakob Martin Strid. Strid ist wie viele andere Künstler eine Mehrfachbegabung, er gestaltet nicht „nur“ Bilderbücher, sondern arbeitet auch als Karikaturist und Comiczeichner für die Tagespresse – und diesen Stil pflegt er auch in seinen Büchern für Kinder. Mit ihrem Witz stehen sie repräsentativ für das Schräge des dänischen Bilderbuchs, ihr inhaltliches „Verstörpotenzial“ ist jedoch – zumindest was „Herrn Rumpelpumpel“ und die „Riesenbirne“ betrifft – gering: Beide Bücher machen einfach Spaß, auch wenn (oder gerade weil) die wild fabulierte Geschichte von der „Riesenbirne“ mit ihren 112 Seiten das „klassische“ Bilderbuchformat sprengt. Nicht zuletzt deshalb wird sie auch von Strid als „spændende og eventyrlige billedbogsroman for børn i alle aldre“ („ein spannender und abenteuerlicher Bilderbuchroman für Kinder jeden Alters“) bezeichnet. Strid setzt auf Sprachkunst und Komik – es verwundert kaum, dass er auch Kinderlyrik schreibt, eine Gattung, die in Dänemark einen hohen Stellenwert und eine lange Tradition hat: Gereimt werden häufig Alphabet- und Tiergedichte, denen man anmerkt, dass Dänemark vom Wasser umgegeben ist, denn Fische schwimmen überaus zahl- und variantenreich zwischen den Zeilen herum. Dänische Kinderlyrik kommt nie langweilig daher, sie ist sehr sprachkreativ, tendiert zum Nonsens und nicht selten balanciert ihre Komik bewusst auf der Grenze des „politisch Korrekten“, aber wahrscheinlich ist sie auch deshalb so erfolgreich. Kanonisch geworden ist u. a. „Halfdans ABC“ von Halfdan Rasmussen aus dem Jahr 1967, dem Jahr, in dem in der dänischen Kinderliteratur nicht allein durch Rasmussen, sondern u. a.  auch dank der Debütromane von Cecil Bødker oder Ole Lund Kirkegaard eine neue Ära eingeläutet wurde. Bis heute wird „Halfdans ABC“ immer wieder neu aufgelegt; vor einigen Wochen lud die Tageszeitung Politiken anlässlich des 100. Geburtstags von Halfdan Rasmussen 28 Autorinnen und Autoren dazu ein, neue ABC-Verse zu dichten. Übersetzt ins Deutsche wurde „Halfdans ABC“ seinerzeit übrigens auch – von James Krüss.

Wie auch anderswo findet man im dänischen Kinder- und Jugendbuch inzwischen eine Vielzahl an graphic novels: Ein Beispiel ist die episodische und mit Blick auf die Text-Bild-Verknüpfungen überaus variantenreich gestaltete Coming-of-Age-Geschichte „Pssst!“ von Annette Herzog und Katrine Clante, die von der zwölfjährigen Viola und ihren Träumen, Sehnsüchten und Ängsten erzählt – und die 2013 mit dem Illustrationspreis des Kulturministeriums ausgezeichnet wurde.
Neben dem visuellen Erzählen dominieren im Kinder- und Jugendbuch besonders magisch-realistische oder fantastische Texte: Es gibt Highfantasy mit Drachen, Trollen und Elfen sowie historisch anmutende settings einerseits und lebensfeindliche Zukunftsszenarien andererseits. So erzählt Jesper-Wung Sung von Klonen, Ida-Marie Rendtorff von dem Leben auf einer Erde, die zu großen Teilen überflutet ist, und Søren Jessen davon, dass sich virtuelle und reale Welt auf unheimliche Weise verbinden. Im Kinderbuch gibt es Transformationen oder magische Helfer, die Außenseitern zur Seite stehen – rekurriert wird hier auch auf die Klassiker des fantastischen Erzählens wie Ole Lund Kirkegaards „Gummi-Tarzan“ oder „Otto ist ein Nashorn“ (dän: „Otto er et næsehorn“) sowie Bjarne Reuters „Hodder, der Nachtschwärmer“ (dän. „En som Hodder“). Auch Kenneth Bøgh Andersen hat mit „Antboy“ eine mit klassischen Motiven spielende Superheldengeschichte geschaffen, in der ein bebrillter Nerd nach einem Ameisenbiss plötzlich ungeahnte Fähigkeiten entwickelt. „Antboy“ ist in Dänemark überaus erfolgreich. Gleiches gilt für Lene Kaaberbøl und ihre „Wildhexen“-Reihe (dän. „Vildheks“) oder Josefine Ottesen und beispielsweise ihre Hullerix (dän: „Hullerikkerne”). Nicht nur, dass Kaaberbøl und Ottesen wie viele ihrer Fantastik-Kollegen „Vielschreiber“ sind, die zahlreiche Serien verfasst haben; auch mit ihrem Rückgriff auf die nordische und Naturmythologie, Märchenelemente wie auch auf christlich kodierte Motive stehen sie repräsentativ für eine Vielzahl dänischer Fantasy- und Fantastikautoren.

Während Kaaberbøl, Ottesen und Andersen ausschließlich fantastische Texte schreiben, sind Autorinnen und Autoren wie Mette Finderup, Bent Haller oder Louis Jensen sowohl in der Fantastik als auch im Realismus zu Hause: Während Mette Finderup in „Love Cuts“ (dän. „Blink. En  kærlighedsroman“) die ungewöhnliche Form eines Reigens wählt, um von den Irrungen und Wirrungen der Liebe zu erzählen, kritisiert Louis Jensen in „33 Cent um Leben zu retten“ (dän. „2 kroner og 25 øre“) das Leben in einer Überflussgesellschaft. Mit seiner Kapitalismuskritik ist das Buch ungewohnt politisch, gleichwohl entfernt sich der Text vom Realismus, da der Roman ebenso wie die Texte von Janne Teller parabelhafte Züge trägt und mit surrealen Einschlägen arbeitet. Grenzüberschreitend bedeutet hier auch, dass vielfach hybride Texte entstehen, die verschiedene Erzählmuster kombinieren: So wird Kritik an der Gegenwart in Dänemark weniger in einer durchgängig realistischen Form artikuliert, sondern in parabolischer  oder –häufiger – in dystopischer Form. Dennoch ist auch in der realistischen Literatur „die Gesellschaft“ implizit oft Thema: Sie bildet nicht nur die Folie für Geschichten, die sich im Mikrokosmos von Familie, Freunden und Schule abspielen, sondern die Texte machen durchaus deutlich, dass gesellschaftliche Entwicklungen sich negativ im Privaten niederschlagen. Autoren wie Ronnie Andersen oder Anita Krumbach setzen – häufig in anspruchsvoller Form – in ihren Romanen kollektive Kälte und Leere eindrücklich mit individuellen Ängsten und Verlorenheits- und Einsamkeitserfahrungen in Beziehung.

Dennoch: Politisch „brisante“ Themen, die soziale Spannungen, Integration und Einwanderung betreffen, werden in der Kinder- und Jugendliteratur kaum verhandelt. Die Herausforderungen, vor denen die lange Zeit recht homogene dänische Gesellschaft in der heutigen Zeit steht und die jegliche hygge verblassen lassen, schlagen sich nur in einzelnen Kinder- und Jugendbüchern nieder: So gibt es die Anthologie „Perkerdansk“ („Kebabdänisch“) oder die humoristischen Kinderbücher von Manu Sareen. Sareen, inzwischen Minister für Kinder, Gleichstellung, Integration und Soziales, erzählt in den Geschichten von Iqbal Farooq selbstironisch von culture clashes und dem turbulenten Alltag einer Familie, die aus Indien stammt und nun in Nørrebro, einem Kopenhagener Multi-Kulti-Stadtteil, zu Hause ist. Frei von jeder Selbstironie ist hingegen das Buch, das 2013 für größtes Aufsehen in Dänemark sorgte: Der Gedichtband des 19-jährigen Yahya Hassan. Zwar nicht als Jugendliteratur gedacht, wurde Hassan doch zur Stimme einer wütenden und desillusionierten Generation: Aufgewachsen als staatenloser Palästinenser in Aarhus, demaskiert er in seinen Texten den dänischen Staat, dessen Politik und Heuchelei ebenso wie seine Herkunftsfamilie und ihre durchaus auch zweifelhaften Normen und Werte.

Gibt es in Dänemark viele Autoren, die ungemein produktiv sind, so ist einer von ihnen ein wahrer Tausendsassa: Kim Fupz Aakeson schreibt Bilder-, Kinder- und Jugendbücher in „allen“ Genres und „allen“ Tonlagen von nachdenklich bis skurril. Sein Werk ist vielfach ausgezeichnet, jedoch bislang nur zu einem Bruchteil übersetzt. Auch die inzwischen mehr als 15 „Vitello“-Bücher sind bislang nicht auf Deutsch erhältlich, dabei bestechen die Geschichten durch ihre Nähe zur Alltagswirklichkeit ebenso wie durch ihren gewissen Twist, was ein Titel wie „Vitello er bagvendt“ („Vitello ist verkehrtherum“) bereits zeigt: Weil Vitello vom ewigen Einerlei die Nase voll hat, beschließt er, alles anders zu machen, umzudrehen und ins Gegenteil zu verkehren, was natürlich für zahlreiche Verwirrungen sorgt. Hoch her geht es auch in den Lausbubengeschichten von Daniel Zimakoff: Drei Brüder, deren Spitznamen Tripp, Trapp, Trümmer nicht von ungefähr kommt, halten ihre Eltern und die sonstige Umgebung mit ihren Ideen ziemlich auf Trab und manövrieren sich immer wieder in ziemlich heikle Situationen.

Fantastik, Lyrik, Komik – dazu Alltägliches, Grenzüberschreitendes und Provokantes: Das Spektrum der dänischen Kinder- und Jugendliteratur ist vielfältig. In Dänemark gilt, wie auch in den skandinavischen Nachbarländern, Literatur für Kinder und Jugendliche weder einzig und allein als kleine Schwester der „großen“ Literatur noch als bloßes Instrument der Pädagogik oder Didaktik, sondern als „Kunst“. In Dänemark existiert ein Sowohl-als-auch: Wendet man sich einerseits anspruchsvoller Kinder- und Jugendliteratur zu, lehnt man andererseits die Favoriten der „Zielgruppe“ ebenfalls nicht rundheraus ab, denn auch ihnen wird ein Wert im Kontext der literarästhetischen Bildung zugebilligt. Mit diesem Sowohl-als-auch korrespondiert, dass es in Dänemark schon seit vielen Jahren eine „Forfatterskole før Børnelitteratur“ gibt, an der das Schreiben für Kinder und Jugendliche unterrichtet wird und an der nicht wenige der hier genannten Autorinnen und Autoren studiert haben: Das Studium stellt nicht den „Geniegedanken“ in Abrede, sondern hat zum Ziel, Talente zu optimieren – und der Erfolg der Absolventinnen und Absolventen scheint dem Konzept Recht zu geben. Viele von ihnen wurden mit renommierten Preisen ausgezeichnet; Preise, die u. a. vom Kulturministerium gestiftet wurden und die den Wert von Kinder- und Jugendliteratur als „Literatur“ betonen. Und so wird Kinder- und Jugendliteratur auch in den Feuilletons überregionaler Zeitungen besprochen, sie wird an der Universität gelehrt und Literaturvermittlung wird in öffentlichen Bibliotheken und Schulbibliotheken (immer noch) großgeschrieben – trotz tiefgreifender Umstrukturierungen und Kürzungen in den letzten Jahren, die die akademischen Bereich ebenso betreffen wie die Literaturkritik und die Vermittlungsarbeit in Schulen und Bibliotheken. Gerade der Schule und den Schulbibliotheken wird ein maßgeblicher Anteil bei der ästhetischen Entwicklung der dänischen Kinder- und Jugendliteratur in den 1960er und 70er Jahren zugesprochen, zugleich hat sich das „Prinzip“ Schulbibliothek als Garant der literarästhetischen Bildung bewährt: Denn Kinder und Jugendliche schätzen „ihre“ Bibliothekare als fachlich kompetente Ratgeber, die sie nicht „belehren“ wollen, sondern die sie ermuntern, auf literarische Entdeckungsreisen zu gehen. Und das sei nun das Stichwort – gucken Sie nach Norden, stecken Sie die Nase in die Bücher und dann: Riktig god fornøjelse!

Ines Galling ist Lektorin für deutschsprachige und skandinavische Kinder- und Jugendliteratur an der Internationalen Jugendbibliothek in München.