Vielfalt zwischen A und Å – die norwegische Kinder- und Jugendliteratur

1519 wurde das erste Buch in Norwegen gedruckt. 500 Jahre später markiert das Land seinen Status als Literaturnation gleich doppelt: Als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert es sich einer großen internationalen Öffentlichkeit, „zu Hause“ findet das „Nationale Buchjahr“ mit über 1500 Veranstaltungen statt. 

Lesen und Literatur haben in Norwegen einen hohen Stellenwert. Für ein Land mit rund 5,4 Millionen Einwohnern wird eine beachtliche Zahl an originären Titeln publiziert, was auch einer umfassenden Sprach- und Literaturförderung zu verdanken ist. Im Kinder- und Jugendbuch erscheinen aktuell ca. 400 bis 500 norwegische Erstausgaben pro Jahr, die sich vielfach durch eine bemerkenswerte Qualität auszeichnen. Besonders das Bilderbuch ist ungemein facettenreich: Es gibt grafische Reduktion, ungestüme Farbexperimente mit Filz- und Buntstiften, organische Formen oder strenge Zeichnungen in schwarz-weiß. Fantasie und Fabulierfreude und keine Scheu vor „schwierigen“ Themen gehen mit technischem Können und häufig kongenialen Text-Bild-Interaktionen einher – und neben „alten Hasen“ haben in den letzten Jahren viele junge Künstlerinnen und Künstler ihr Talent unter Beweis gestellt und sind schnell zu festen Größen im Bilderbuch avanciert.

Viele Bücher sind vom Vertrauen in die kindliche Autonomie und dem Respekt gegenüber Kindern und ihrem Blick auf die Welt geprägt: Stian Hole erzählt in seinen „Garman“-Büchern in vielschichtigen Bilderwelten, die oft zwischen realistisch und surrealistisch oszillieren, von Garmans Sehnsüchten und Ängsten. Schräger Humor und Komik gehen häufig eine Symbiose mit universellen, existenziellen und philosophischen Überlegungen ein, wenn Fragen nach Gerechtigkeit, Identität und danach, was es bedeutet, füreinander da zu sein, verhandelt werden. Wenn in Alice Lima de Farias „Fuglefesten“ (dt. Ausgabe: FlatterVogelFest) die Freundschaft zwischen Fledermaus Flapps mit dem Wurm Mark auf die Probe gestellt wird, bürgen die nicht-menschlichen Protagonisten für ästhetische Verfremdung, bieten aber gerade deshalb die Möglichkeit zur Identifikation. Im Bilderbuch werden auch bedrohliche Themen wie häusliche Gewalt verhandelt – so bei Gro Dahle und Svein Nyhus, dessen expressive und symbolische Bildsprache in u.a. „Sinna mann“ (dt. Ausgabe: Bösemann) Projektionsräume des Inneren gestaltet. Auch überbordende Wimmelbücher haben dank der wuseligen Universen von Kerstin Roskifte, Åshild Kanstad Johnsen oder Anna Fiske in den letzten Jahren einen Boom erlebt. Oft gehen populäre Bilderbuchcharaktere in Serie oder werden für das Kindertheater oder den Film adaptiert – so „Jakob og Neikob“ (dt. Ausgabe: Jakob und Neikob) von Kari Stai oder „Bukkene Bruse“ (dt. Ausgabe: Die Böckchen-Bande) von Bjørn R. Rørvik und Gry Moursund: Mit viel Sprachwitz und wilden Kritzelzeichnungen schütteln sie das Volksmärchen von den drei Böckchen, die zur Alm wandern und den Troll austricksen, gehörig durch.

Øyvind Torseter verleiht in seinen Graphic Novels „Mulegutten“ (dt. Ausgabe: Der siebente Bruder oder das Herz im Marmeladenglas) oder „Mulysses“ (dt. Ausgabe: Hans sticht in See Die Irrfahrt und Heimkehr eines mittellosen Burschen auf der Suche nach dem Glück) mit seiner Kombination aus traditionellem Personal, skurrilen Einfällen und sprachlicher Lakonie klassischen Stoffen und Erzählformen ebenfalls einen neuen Dreh. Die Bücher sind „all-alder“-Literatur und sprechen einen breiten Adressatenkreis an. Verschwimmen hier die Grenzen, werden sie auch zwischen Sach- und Bilderbuch aufgeweicht – wie beispielsweise in „Verden sa ja“ (dt. Ausgabe: Die Welt sagt ja) von Kaia Dahle Nyhus, die in flächigen Bildern, die an Maori- oder Aborigine-Kunst erinnern, nicht weniger als die Evolutionsgeschichte von den Anfängen bis heute erzählt.

Die Haltung, Kinder ernst zu nehmen, findet man ebenfalls im Kinderroman: Bobbie Peers stillt in seinen fantastischen Romanen um William Wenton das Bedürfnis nach actionreichen Geschichten, Torun Lian erzählt von der zurückhaltenden „Reserveprinsessin Andersen“ (dt. Ausgabe: Reserveprinzessin Andersen), Iben Akerlie von einer besonderen Freundschaft, Mobbing und Verrat und Gudrun Skretting von Anton, der eine Frau für seinen Vater sucht. Maria Parr entwirft selbstständige Figuren mit vielen Flausen im Kopf und ihre große Loyalität gegenüber ihren Helden zeigt sich einmal mehr in ihrem jüngsten Roman „Keeperen og havet“ (dt. Manchmal kommt Glück in Gummistiefeln), in dem Trille und Lena langsam der Kindheit entwachsen. Nicht nur im Roman, sondern auch in Graphic Novels ist diese sensible Übergangzeit derzeit ein Thema – so in dem Debüt von Manghild Winsnes „Hysj“ (dt. Psst).

Wenn Kinder und Jugendliche nicht selbständig sein „können“, sondern „müssen“, wird Autonomie ambivalent: In „Brune“ (dt. Ausgabe: Super-Bruno) von Håkon Øvreås und Øyvind Torseter sind Brunos Eltern nach dem Tod des Großvaters so sehr mit ihrer eigenen Trauer und „praktischen Angelegenheiten“ beschäftigt, dass sie kaum Zeit für seine Nöte haben. Doch ganz allein ist Bruno nicht – er meistert Krisen und gewinnt innere Stärke im Zusammenhalt mit anderen. Anders ist dies in Bjørn Ingvaldsens Roman „Lydighetsprøven“ (dt. Gehorsamkeitsprüfung), in dem ein Kind von seinem Stiefvater zu Tode misshandelt wird. „Lydighetsprøven“ ist ein mutiges, herausforderndes Buch – ohne Lichtblicke, humorvolle Brechungen oder gar ein „gutes Ende“. 

Im Jugendroman werden die Krisen, die vielfach aus dem Gefühl eines „Nicht-Genügens“ erwachsen, nicht selten in Ich-Erzählungen verhandelt. Auch in Graphic Novels zeigt sich eine Fokussierung auf das Ich und man kann eine deutliche Tendenz zum Autobiografischen ausmachen: Anders Kvammen verhandelt in „Ungdomsskolen“ (dt. Die Schule) seine eigene schwierige Schulzeit und nutzt dabei geschickt die Text-Bild-Verknüpfungen des Genres. Auch im Roman gibt es ausgefeilte Konzepte wie das polyperspektivische Erzählen – so bei Harald Rosenløw Eeg, Marit Kaldhol, Bjørn Sortland oder Tyra Theodora Tronstad.
Darüber hinaus wird der klassische Konflikt „Ich und die Anderen“ im vermehrt in größere, aktuelle Kontexte eingebunden: Sowohl Kinder- als auch Jugendbücher reflektieren gesellschaftliche Herausforderungen. Autorinnen und Autoren wie Ingrid Ovedie Volden, Arne Svingen oder Marianne Kaurin verhandeln Ökologie, Flucht, Migration, Kriminalität und Armut. Der moralische Zeigefinger bleibt unten, dennoch wird das Bewusstsein für die Brüche in der norwegischen Gleichheitsgesellschaft geschärft und der Blick auf jene gelenkt, die an den Rand gedrängt sind.

In den letzten Jahren haben sich zudem vermehrt Autorinnen und Autoren zu Wort gemeldet, denen man bislang kaum Raum zugestanden hat – Einwanderinnen und Einwanderer der zweiten Generation, die vom Hin- und Hergerissensein zwischen den Ansprüchen ihrer Familien, denen der norwegischen Mehrheitsgesellschaft und gegenseitigen Vorurteilen erzählen. Die jungen Musliminnen Amina Bile, Nancy Herz und Sofia Nesrine Srour zeigen in ihrem Buch „Skamløs“ (dt. Ausgabe: Schamlos), wie Konzepte von „Ehre“ und „Scham“ dazu missbraucht werden, Mädchen und Frauen zu bevormunden, zu gängeln und in ihrer Entfaltungsfreiheit einzuschränken. 
Auch wenn Amina Bile, Nancy Herz und Sofia Nesrine Srour zu Recht eine aufklärerische Absicht verfolgen, ist die norwegische Kinder- und Jugendliteratur im Allgemeinen nicht so sehr davon geprägt, etwas zu „sollen“. Didaktische Intentionen und kommerzielle Interessen treten weniger prominent hervor – auch dies ein Verdienst der norwegischen Literaturpolitik, von der Künstlerinnen und Künstler, Verlage, Bibliotheken und Leserinnern und Leser gleichermaßen profitieren: Bereits in den 1960er Jahren wurde die sogenannte „innkjøpsordning“ (dt. Beschaffungsordnung) initiiert. Auf ihrer Grundlage kauft der Norwegische Kulturrat jedes Jahr ausgewählte aktuelle, originär norwegische Titel und verteilt sie an alle Bibliotheken, sodass sie für jede und jeden zugänglich sind. Verlage macht die „innkjøpsordning“ unabhängiger von marktökonomischen Zwängen, was wiederum die Offenheit gegenüber ästhetischen Experimenten und unkonventionellen Titeln steigert.

Auch außerhalb der Landesgrenzen ist norwegische Literatur erfolgreich – aufgrund ihrer Qualität und Innovationskraft, dank des Einsatzes professioneller Vermittler und nicht zuletzt dank einer finanziell komfortabel ausgestatteten Übersetzungsförderung. Für Norwegen ist Deutschland Exportnation Nummer 1 – und mit Blick auf die Kinder- und Jugendliteratur zeigt sich die Vielfalt der norwegischen Produktion auch auf dem deutschen Buchmarkt. Mag es auch Gattungen – wie die Lyrik – und Künstlerinnen und Künstler geben, die (bislang) nicht in Deutschland präsent sind, so schlagen die derzeit aus dem Norwegischen übersetzten Bilder-, Kinder- und Jugendbücher thematisch und stilistisch den Bogen von A bis Å und verweisen auf den Reichtum der norwegischen Kinder- und Jugendliteratur.

Dr. Ines Galling, Lektorin für deutschsprachige und skandinavische Kinder- und Jugendliteratur in der Internationalen Jugendbibliothek München